Trauerfeier

 

Ansprache

zur Trauerfeier am 1. Juni 2007in der Kirche der
Evangelisch-Lutherischen Diakonissenanstalt zu Flensburg

“Singet dem Herrn ein neues Lied - denn er tut Wunder!”

Psalm 98,1

Ihr Lieben aus der Nähe und aus der Ferne!

Seit dreitausend Jahren ertönt dieser Aufruf der Psalmen - heute in fast allen Sprachen der Menschheit. Wenn wir uns (betend und singend oder hörend) darauf einlassen, dann stellen wir uns mitten hinein in diese große Gemeinschaft: durch die Generationen und rund um die Erde.

“Singet!”: Gebt Ausdruck dem, was in euch lebt, eurer Sehnsucht und Hoffnung, eurem Schmerz und eurer Trauer; doch nicht als unartikuliertes Gebrüll: sammelt die Kräfte des Leibes und der Seele ein, die Gedanken und Gefühle und gebt ihnen eine Richtung: “Singet dem HERRN!”

... nicht nur für Menschenohren; euer Gesang dringt durch. Ihr dürft im Singen eine Gegenwart erfahren: Gottes schaffenden Geist, der alles, was ist, ins Dasein ruft.

“Ein neues Lied” ist dieses Gewahrwerden seiner Gegenwart. Da verstummen die alten Lieder von Zweifel und Zaudern, von Neid und Missgunst, von Trübheit und Selbstvergessenheit; da erfüllt und nährt uns eine Freude, die sich nicht mit Worten allein ausdrücken lässt.

Herbert Kelletat, unser Bill, “Väterchen” und Apapa, hat diese Freude erfahren dürfen: das Singen zum Lobe Gottes, das uns hinausheben kann über alle Begrenztheit und Kümmernisse des eigenen Lebens und des Lebens derer mit uns.

Viele hunderte Menschen hat er zum Singen “angestiftet” und angeleitet; zu einem Singen, das sein Ziel nicht hat im Vorzeigen “schöner Stimmen”, sondern im Bekennen, in der Formung der Herzen, im Erwachen zur Gegenwart des lebendigen Schöpfergeistes.

Der Grund für diese Haltung und die Freude an der Musik, beides ward ihm früh gelegt: in der erwecklichen Atmosphäre des Elternhauses, dem frohen Gesang der Eltern, dem Geigen - und Harmoniumspiel daheim. In seinem “Weg zur Musica Sacra”, dessen einzelnen Schritten er in diesen letzten Jahren nachgespürt hat, da steht das ganz am Anfang: die konzentrierte Frömmigkeit der Mutter, die rege Tätigkeit des Vaters als Prediger in den Baptistengemeinden.

Als erstes Kind seiner Eltern wurde er am 13. Oktober 1907 in Saalfeld im Kreis Mohrungen in Ostpreußen geboren. Ein Jahr darauf folgte die Familie einem Ruf der Baptistengemeinde in Graudenz, wo sein Bruder Hans und dann die Schwester Gertrud geboren wurden, sie alle drei die tiefe religiöse Prägung durch den regelmäßigen Besuch der Sonntagsschule erfuhren.

Mit Beginn des 1. Weltkrieges  - da war Bill sieben Jahre alt  - zog die Familie  - ohne den als Sanitäter an die Front berufenen Vater - zuerst zu den Großeltern nach Liebstadt in Ostpreußen, dann nach Bromberg und schließlich, nach dem Krieg nach Halle an der Saale. Hier erlebte Herbert als Vierzehnjähriger seine Taufe, sprach selber das Bekenntnis, das fortan auch Ziel und Krönung seines Lebens und Schaffens werden sollte. Gleichzeitig mit der Schule bekam der Instrumentalunterricht ein großes Gewicht: die Geige, das Klavier, schließlich die Orgel.

Es entbehrt in der Rückschau - und gemessen an dem enormen Wirkungsgrad, den er entfaltete - nicht einiger Ironie des Schicksals, dass Herbert mit dem Berufsziel “Gymnasial-Musiklehrer” eine erste Aufnahmeprüfung an der Akademie für Kirchen- und Schulmusik in Berlin erfolglos passierte und erst über Germanistik und Anglistik schließlich zu Musikwissenschaft als seinem ersten Hauptfach fand.

So war Zeit, seiner Liebe zur Kirchenmusik ein tiefes Fundament zu geben: im Orgelspiel, im Chorgesang, in wissenschaftlicher Arbeit als Assistent von Prof. Joseph Müller-Blattau in Königsberg. An der Seite seines Doktorvaters wuchs er in die Lehre hinein.

Hier trat die Pfarrerstocher Margarete Nominikat in sein Leben, die ihn durch all die folgenden Stationen trug als Sängerin, Musikerin, als Gesangspädagogin und Seelsorgerin, als Ehefrau und Mutter von drei Kindern (Renate, Erdmute und Hans-Joachim) durch glückliche und schwere Zeiten mit unbestechlicher Treue, Aufmerksamkeit und Barmherzigkeit. Sie teilte seine Begeisterung für Musik und Wissenschaft, sein preußisches Pflichtbewusstsein und seine Lebensfreude. Sie mahnte und veranlasste ihn, seine väterliche Verantwortung auch für Gudrun wahrzunehmen, die  - kaum jünger als die drei anderen -  zwar seine, doch nicht ihre Tochter war. Sie war mit ihrer breiten Bildung eine Herausforderung an jede evangelistische Enge der baptistischen Frömmigkeit, aus der er kam; sie ermöglichte ihm, die Geborgenheit in einer Familie zu erfahren, trotz der engagierten Umtriebigkeit seines Schaffens und Lebens

Die ersten zwölf Jahre ihrer Ehe waren gezeichnet durch den Nationalsozialismus und Herberts Einsatz als Offizier. Die Erfahrungen dieser Zeit haben ihn erschüttert und herausgefordert: so viel Elend, das er als aktiv Eingebundener ja auch mit verursachen musste.

Doch da waren auch so viele Begegnungen mit ganz unterschiedlichen Menschen, mit Kirchen und Orgeln. Mitten im Einsatz gab er Orgelkonzerte für Kameraden und Zivilisten in Österreich, Deutschland, der Normandie, dem Baltikum und durfte inmitten des Schreckens der Zerstörung mehrfach wundersame Bewahrung erfahren - der eigenen Person und auch der Familie, die im letzten Augenblick noch vor der russischen Invasion in den Westen fliehen konnte.

Dann der Dienst als Kantor und Organist in Tönning, in Soest und schließlich in Berlin. Die ganze Familie war in dieses Schaffen eingebunden und trug sein Wirken durch den eigenen Einsatz mit. Die für euch in den ersten Lebensjahren durch den Krieg so reduzierte Beziehung zum Vater, hier hatte sie nun ihren Ort und ihre Zeit. Wie viele Schätze konntet ihr gemeinsam heben!! Er sammelte Studierende aus der ganzen Republik in der “Evangelischen Studentenkantorei Deutschlands” mit Singwochen und anschließenden Singfahrten durchs ganze Land.

An der Hochschule für Musik Berlin unterrichtete er Orgelimprovisation. An der Kirche am Hohenzollernplatz blühte die Chorarbeit auf  - mit allsonntäglichem Einsatz im Gottesdienst. Er wirkte für die ganze Region der berlin-brandenburgischen Landeskirche durch Schulungen der Kirchenmusiker und verschiedenster Chöre.

Der beflügelnde Geist der Gemeinschaft, die Freude und Beschwingtheit und die gründliche Arbeit an den Singenden selber und an der Musik - beides hat sich mir tief eingeprägt, die ich als älteste Enkelin als Kind die letzten von über 20 Singwochen in Altena/Westfalen und Großalmerode miterleben durfte. Für so viele eine wunderbare Zeit.

Zugleich mit der Arbeit an so vielen Menschen konzentrierte er sich auf die Forschung an den Tonordnungen, fand die “wohltemperierte” Stimmung J.S. Bachs “wieder”, verhalf - sozusagen -  einem Stiefkind der Musikwissenschaft in den 60er Jahren schon zur Bühnenreife. Damit war er seiner Zeit voraus - wie ein Mahner in der Wüste - und durfte doch in den letzten Lebensjahren noch erleben, welch reiche Ernte den neu wieder-entdeckten Wurzeln entspross. Mit großer Liebe zur Sache und in allgemeinverständlicher Sprache hat er das vor kurzem in seinem “Weg zur Musica Sacra” zu Papier gebracht.

Er wusste die eigenen Grenzen zu achten. So wie er mit seiner Pensionierung den alten Mercedes verkaufe: Ab jetzt setzte er sich nicht mehr selber ans Steuer.

Mit dieser äußeren Begrenzung nahm sein Schaffen keineswegs ab, verlegte sich aber mehr in die Forschung: in Bibliotheken in Köln, Wien, Florenz, Rom, in konzentrierte Arbeit am Schreibtisch. Als Enkel spielten wir um diesen Schreibtisch herum. Und auch wenn er sich aus der Chorleitung zurückzog, das Orgelspiel  - vor allem die Improvisation - blieb ihm ein tägliches Labsal bis in die letzten Stunden seines Lebens hinein.

Darin überwand er den frühen Abschied von Margarete 1980, darin wusste er sich getragen von der jüngeren, leidgeprüften Pfarrerswitwe Hedwig Bülow (Hedi), die ihn als Ehefrau durch die weiteren Jahre begleitet hat. So manches Orgelkonzert (auch unsere gemeinsamen Konzerte mit ihm in Loccum, Soest, Salzuflen) und manchen Organisteneinsatz im Gottesdienst hat sie durch ihre Begleitung und gute Logistik mitgetragen. Das tägliche Gespräch mit ihr blieb nie aus - auch in diesen letzten fünf Jahren, als sie  - selber schwer erkrankt und pflegebedürftig -  ihn nicht mehr im eigenen Hause in Salzuflen begleiten konnte und er nach einigen Wochen in Wien nach Flensburg kam und im Gotthard-und-Anna-Hansen-Stift eine “Zelle der Gelehrsamkeit” einrichtete.

Viele haben ihn hier vortrefflich begleitet: medizinisch, pflegerisch und therapeutisch; die acht Urenkel spielten dort vor ihm  -- zeitweise täglich, in den letzten drei Jahren leider viel zu selten; er spielte diese Orgel hier in der Kirche in mancher gemeinsam gestalteten Vesper und gab hier noch ein Konzert. Und er spielte die Orgel in seinem Zimmer - mal in musiktherapeutischem Einsatz (für einen durch Schlaganfall gezeichneten Mitbewohner, Herrn Zäske) - mal bei weit geöffnetem Fenster zum Genuss für alle, die im Park der Anlage oder auf der Station lauschten. In klarer Ordnung hatte jeder Tag seine Stunden der Arbeit an Aufsätzen, Autobiographie und Korrespondenz, seine Stunden des Gesprächs und der Musik und seine Stunden der Ruhe und Erholung. Seine wache Aufmerksamheit und gewinnende Freundlichkeit haben so Vieler Herzen geöffnet.

Bei einer Infektion im heißen April fühlte er seine Kräfte schwinden und verabschiedete sich von uns - und auch von den Planungen für seinen hundertsten Geburtstag. Doch dann kam der Mai und Bill erholte sich zusehends. Mitte der vergangenen Woche sagte er freudig: “Ich habe es geschafft. Die Kräfte kehren wieder!”

So starb er am vergangenen Freitag für uns alle überraschend nach einer ruhigen Nacht und dabei, sich für den neuen Tag zu bereiten - aufrecht sitzend. Plötzlich kam der Ruf und er war bereit: Morgenglanz der Ewigkeit!

Wie viele Wunder hat er erfahren und besingen können! Und doch bleibt das größte Wunder, dass unser Leben mit all seinen Brüchen und Verletzungen, den offenen Enden und bleibenden Fragen - doch einmünden kann in das Werk Gottes. Er tut Wunder”

Und was wir getan, gesagt, gedacht haben, das trägt seine Früchte nicht aus sich selber. Wir stehen erst im Anfang der Schöpfung Gottes - er ist in uns am Werk. Lasst uns bitten, dass wir seiner Gegenwart inne werden, durch die er uns bereitet im Licht und im Dunkel, in Glück und Schmerz, einmal miteinander reif zu werden für sein ewiges Reich, bis uns die Augen aufgehen in seinem Licht.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen

 

(Donata Dörfel)