Bützow, Messias

 

Immer wieder treffen wir Menschen, die begeistert von dem “Wunder von Bützow” berichten: in mitten des Chaos des Zusammenbruches am Kriegsende bildete Herbert Kelletat in Bützow, Mecklenburg, eine Kantorei, mit der nicht nur sonntäglich der Gottesdienst mitgestaltet wurde sondern auch eine von allen Beteiligten als unvergesslich beschriebene Aufführung des Messias von Händel erarbeitet wurde. Das entsprechende Kapitel aus Mein Weg zur Musica Sacra haben wir hier aufgenommen:

 

Das Ende. In Wäldern und Sümpfen. Bützow und Rostock

Ich wurde versetzt zum Stab einer Eisenbahn-Flakabteilung in Bad Heringsdorf. Auf Erkundungsfahrten mit dem Kommandeur, Major Heinz Erbe, gibt es besinnliche Rast in Dorfkirchen. Die Abteilung wird verlegt nach Altefähr zur Wacht am Rügendamm. Russische Panzer sind durchgebrochen. Auf der Fahrt in Richtung Lübeck kommen wir nur bis Rövershagen. Nach verlustreichem, aussichtslosem Kampf mit T 34-Panzern sprengen wir unsern Zug in die Luft. Wir wandern los, tauchen unter in Wäldern und Sümpfen, kommen in Mecklenburg in die Nähe von Bützow. Im Dorf Seelow finde ich Unterschlupf als Bauernknecht und werde “aufgepäppelt”. Ich ziehe weiter, hinein nach Bützow, zum Pastorat gegenüber der Stiftskirche. Pastor Hoepcker, ehemaliger Cruzianer (!) zeigt mir das große Gotteshaus mit dem schönen Altar und der guterhaltenen alten Orgel. Eine Heimkehr! Und auf der Stelle war ich wieder im Amt. Eine Kantorei entstand. Da sangen einige Ältere aus dem früheren Kirchenchor, Vertriebene aus Ostpreußen, Jugendliche, die dem Kriegseinsatz gerade noch entgangen waren, und die Kinder, und sie sangen in jedem Gottesdienst.

Die Kirchengemeinde hatte mir eine Unterkunft in einem großen, musealen Zimmer verschafft, mit wertvollen alten Möbeln und Gemälden. Eines Abends fallen Schüsse unten auf der Straße. Soldaten stürmen ins Haus. In meinem Zimmer schießt einer gleich auf das größte Gemälde. Zu einer verschlossenen Truhe fehlt der Schlüssel. Die Hausbesitzerin, eine alte Dame, hat ihn nicht. Die Möbel waren nur untergestellt. Mit “Dawei, dawei” brachte man uns beide ins Rathaus, oben in eine Zelle mit Holzpritschen. Aus den Nebenzellen kommen immer wieder Schreie.  In der Nacht wurde zunächst meine Zellengenossin verhört; sie kam glimpflich davon. Dann wurde ich geholt, stand vor einem Kommissar in schwarzer Uniform, flankiert von zwei offensichtlich angetrunkenen Soldaten. Der Kommissar sprach ganz gut deutsch, warf mir vor, aus dem Haus heraus geschossen zu haben. Als ich das energisch verneinte, schlugen die Soldaten auf mich ein. Ich sollte gestehen, geschossen zu haben, oder sagen, wer geschossen hat. Mit ihren Revolvern trafen sie meinen Hinterkopf. Ich sage dem Kommissar: “Du weißt ganz genau, daß ich nicht geschossen habe, ich hasse Euch trotzdem nicht. Dazu sage ich Dir nur ein Wort: Christus!” Der Kommissar starrte mich an, die beiden Schergen glotzten. “Komm”, sagte er, brachte mich zu meiner Pritsche. Ein Gefühl der Schwerelosigkeit hatte ich. Ich hörte herrliche Musik, sah wunderbare Farben. --- Pastor Hoepcker erwirkte beim Politoffizier meine Freilassung. Ich taumelte aus dem Rathaus. Der Posten am Portal steckte mir heimlich etwas zu: ein Brötchen! War er es, den ich einmal kniend am Altar gesehen hatte ?  Ich kam durch die Fürsorge lieber Menschen wieder zu Kräften. Mein rechtes Bein war gelähmt. Ich habe es an der Orgel gesund gespielt.

Die Bützower Kantorei trat auch als “Kulturträger” in besonderen Veranstaltungen an die Öffentlichkeit. In einem Volksliedabend mit einem bunten Strauß geistlicher und weltlicher Liedsätze sangen die Kinder: “Ein Vogel wollte Hochzeit machen”. Ein Junge im Sopran sang die letzte Strophe allein. Bei “Der Hahn, der krähte gute Nacht” überschlug sich seine Stimme. Stimmbruch meldete sich. Die Zuhörer waren begeistert, und der “krähende” Sopranist strahlte.

Im Spätherbst 1945 reifte der Plan, das Oratorium “Der Messias” von Georg Friedrich Händel aufzuführen. Die Sänger schrieben sich ihre Chorstimmen auf irgendwelches Papier, sogar auf Packpapier, denn gedrucktes Chormaterial fehlte. Ein Tenorsänger, Kurt Kehrwieder, schreibt zwanzig Jahre später: Die Einstudierung von Händels ‚Messias‘ war nun das große Wunder. Ein oft kalter oder verqualmter Gemeindesaal diente in Wintermonaten als Probenraum. Diese Proben unterschieden sich – ich weiß auch heute noch kaum zu sagen, wodurch – von allem, was ich dann in den vielen Jahren andernorts an Chorarbeit erlebt habe. Es muss sich so etwas vollzogen haben, wie ein totales Eintauchen in die geistige Substanz dieses gewaltigen Werkes, begünstigt noch durch das nunmehr Bewusstwerden unseres so völlig ausgehungerten Zustandes. Es mag genügen, wenn ich ohne alle Übertreibung sage, dass dieses Ereignis für manchen von uns Lebenswende und Lebensrettung bedeutet hat. Der ‚Messias‘ wurde im Mai 1946 in der Bützower Stiftskirche und bald danach auch in Rostock noch zweimal in der alten , schönen Klosterkirche aufgeführt. Manche Einzelheit taucht in der Erinnerung wieder auf, die gewiss dazu beitragen könnte, das Bild von diesen wahren ‚Sternstunden‘ noch farbiger zu zeichnen. Ich habe, glaube ich, niemals wieder in einer Aufführung, an der ich beteiligt war, einen solchen inneren warmen Glanz erlebt, wie in jenen Tagen. Das war besonders und einmalig und konnte sich eigentlich auch später nicht wiederholen. Für alle diejenigen, die sich dann fernerhin in dieser und jener Weise der Musik gewidmet haben, wurde ein Maßstab gesetzt und ein tragender Grund gelegt, der in sehr tiefe Schichten der Seele hineinragt.